„Zwangsstörungen“ F42

OCD – eine alte und eine neue OCD-Geschichte

Wie aus der Obsessive-compulsive disorder eine objektiv konstruierte Störung werden kann

OCD (Obsessive-compulsive disorder, z. B. mit Zwangshandlungen und Zwangsgedanken) zählt zu den unangenehmsten Beschreibungen menschlichen Denkens und Handelns. Menschen erzählen, Gedanken hätten Macht über sie. OCD ist aber nur eine Beschreibung, ein Erklärungsversuch. Die Beschreibung angeblich mächtiger Gedanken und Handlungen ist es, die Gedanken groß werden lässt. Nur die Beschreibung. Nichts sonst.

Haben Sie mit lästigen Gedanken zu tun?

Haben Sie als Patient, Arzt oder Berater schon einmal den Plan gehabt, Gedanken zu vertreiben oder zu löschen? Hier ist ein Schnelltest. Er demonstriert Ihnen, wie wenig Sinn in der Idee steckt, Gedanken zu vermeiden.

Stellen Sie sich vor, Sie sprechen den negativen Gedanken (Zwangsgedanken) in Gegenwart einer Person aus, die Ihre Sprache nicht kennt. Wie wird die Person aus dem Ausland reagieren? Wahrscheinlich wird sie Sie fragend ansehen, weil sie nicht weiß, was Sie ihr mit diesen Worten sagen wollen. Mehr wohl nicht. Das Gehirn hat die Fähigkeit, szenische Bilder und Prognosen zu entwickeln. Das Gehirn baut und nutzt Verbindungen in alle Richtungen. Sinnvolle (im Sinne von nützliche) wie sinnlose (also solche, die uns im Alltag Probleme bereiten können). Funktionen unseres Gehirns lassen aus geschriebenem und gesprochenem Text eine konstruierte Realität in der Vorstellung entstehen.

Das ist prinzipiell alles, was auch im Zusammenhang mit OCD „passiert“

Der Reihe nach. Wie läuft heute eine typische OCD-Geschichte?

Die schnelle Karriere eines negativen Gedanken

Eine OCD-Story wie diese hier trägt sich weltweit unzählige Male zu: Eine Person bewertet einen Gedanken als negativ. „Der Gedanke soll verschwinden.“ Das denkt die Person. Aber der Gedanke geht nicht. Natürlicherweise nicht. Dann erzählt die Person einem Freund von ihrem Gedanken. Der Freund macht ein ernstes Gesicht. Der Gedanke bleibt, wird jetzt sogar deutlicher. In diesem Moment schenkt die Person dem unerwünschten Gedanken ein hohes Maß an Aufmerksamkeit.

Es ist eine natürliche Reaktion des Gehirns, der Aufmerksamkeit zu folgen. Menschen, Dinge, Szenen, Gedanken, denen wir Aufmerksamkeit geben, wirken wichtig. Immer. Wenn das so geschieht, ist es also ein Beweis für die Gesundheit des Gehirns. Das Gehirn arbeitet funktionsgerecht, wenn es einen mit Aufmerksamkeit ausgestatteten Gedanken als wichtig bewertet.

Was läuft bei einem positiven Gedanken?

Spielen wir das Thema Aufmerksamkeit und Präsenz eines Gedankens an einem angenehmen Gedanken durch.

Nehmen wir an, Sie wollen morgen eine Theatervorstellung besuchen. Oder ein Fußballspiel. Sie freuen sich darauf, haben die Karten schon vor Wochen gekauft. Welche Bilder haben Sie von Ihrer Veranstaltung im Kopf? Ist diese Veranstaltung für Sie eher wichtig oder unwichtig?

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie morgen vergessen werden, zu der Veranstaltung zu gehen? Wahrscheinlich liegt die Wahrscheinlichkeit bei ungefähr Null. Sie haben dem Ereignis, das in der Zukunft liegt, emotionale Aufmerksamkeit gegeben. Deshalb ist es für Sie wichtig. Und wenn Sie sich Mühe geben würden, die Theatervorstellung oder das Fußballspiel aus Ihrem Kopf zu löschen – würde das funktionieren?

Sicher nicht. Sie können die Idee von einem wichtigen Ereignis nicht aus Ihrem Kopf löschen. Sie können keinen einzigen Gedanken löschen.

Emotional verknüpfte Aufmerksamkeit

Emotionale Aufmerksamkeit ist das Stichwort. Emotional ist und bleibt emotional, was die Erregung des Gehirns betrifft. Ein trauriger Gedanke löst Emotionen aus, wie auch ein freudiger Gedanke Emotionen auslöst. Die Wirkungen auf der körperlichen Ebene sind zwar grundverschieden, aber in beiden Fällen entstehen Reaktionen auf der körperlichen Ebene. Emotionale Aufmerksamkeit führt zu körperlichen Reaktionen. Von dort aus geht es wieder zurück ins Gehirn. Ein Gedanke ist „in den Magen gefahren“. Wenn der Mensch nun seinen Magen spürt, ist das … wie ein Signal, dass etwas nicht stimmt. Zusammenfassung: Ein unangenehmer Gedanke löst auf der Körperebene eine unangenehme Reaktion aus. Das Gehirn bzw. der Mensch bewertet die Körperreaktion wie eine Bestätigung für die Theorie:

Schlechter Gedanke!

Aufmerksamkeit hält einen Gedanken aktiv

Es sollte klar sein: Aufmerksamkeit auf ein Thema, einen Termin oder Gedanken sorgt dafür, dass der Gedanke wachgehalten wird.

Gehen wir weiter in der Geschichte der Person, die einen Gedanken nicht haben möchte.

Einige Tage lang versucht die Person, sich gegen den Gedanken zu wehren, schneller zu laufen als der Gedanke oder was auch immer. Aber das gelingt (logischerweise) nicht. Es kann nicht gelingen. Weil das Gehirn so nicht funktioniert.

Die Person hat jedoch noch nicht von dieser Arbeitsweise des Gehirns gehört. Deshalb denkt sie, es wäre nicht normal, dass ein Gedanke bleibt und bleibt und bleibt.

Die Person sieht im Internet nach.

Dort liest sie etwas von Zwangsgedanken, die sich manifestieren können. Sie besucht Websites von Kliniken, die Texte zu solchen Zwangsgedanken, zu Obsessive-compulsive disorder präsentieren.

Alles wirkt auf den ersten Blick logisch bei OCD

Die Geschichte von OCD wirkt leider sehr plausibel, und sie scheint sich permanent selbst zu bestätigen: Der Gedanke, der sich nicht entfernen lässt. Die Anstrengungen der Patienten. Die Medikamente, mit denen Ärzte versuchen, Ängste zu besiegen. Das Konfrontationstraining, mit dem die Patienten in Extremsituationen gebracht werden. Ängste, die daher kommen, weil die Patienten merken, dass sie ihre Gedanken nicht dirigieren und beherrschen können.

OCD (Obsessive-compulsive disorder). Als sie die vielen OCD-Stories mit ihrer eigenen Situation vergleicht, erlebt die Person einen Schrecken. Dann geht sie zum Arzt. Der Arzt kennt ebenfalls nur die alte OCD-Story. Er hört sich die Patientengeschichte an. Dann macht er eine ernste Miene und sagt: „Verdacht auf OCD. Gehen Sie zum Psychologen.“

Merken Sie, was bis hierher passiert ist?

Die Person geht als körperlich und psychisch gesund zu ihrem Arzt – und wird als Patientin zum Psychologen oder Psychiater geschickt. Eine Turbo-Metamorphose – oder: die schnelle Karriere eines negativen Gedanken.

Der Psychologe diagnostiziert OCD

Als die Person beim Psychologen sitzt, fragt dieser: Wie lange haben Sie diese Zwangsgedanken schon? (Der Psychologe in dieser OCD-Story verwendet von Anfang an das Diagnose-Kunstwort „Zwangsgedanke“, was eine massive Intervention ist. Ab diesem Moment ist die Sprachregelung schon verabredet. Man redet nun von einem Zwangsgedanken. Zwangsgedanken kommen vor, wenn eine OCD besteht. Hier beginnt ein langer Leidensweg. Denn wie auf dieser Internetseite an vielen Stellen gezeigt wird, ist eine „Therapie gegen Zwangsgedanken oder OCD“ kaum erfolgversprechend.

Die herkömmliche OCD-Diagnose wirkt wie ein Schicksalsschlag

Menschen erleiden Gedanken. Sie wollen sich gegen diese Gedanken wehren. Diese Gedanken beginnen, bedeutungsvoller zu wirken. Deshalb sind Therapeuten und Patienten der Meinung, die Gedanken hätten eine Art von Macht oder Größe. Das ist aber ein Irrtum. Der Gedanke hat keine Bedeutung. Der Beobachter des Gedankens gibt dem Gedanken eine Bedeutung und damit ein Gewicht.

Wie geht die alte OCD-Story weiter?

Ich könnte hier noch von monatelangen Therapiesitzungen, stationären Aufenthalten in OCD-Spezialkliniken schreiben, von Medikamenten und sinkender Hoffnung. Ich könnte von der Feststellung „austherapiert“ schreiben, die immer nur etwas über die Psychologen aussagt, nichts aber über die Patienten bzw. Klienten. Ich verzichte auf weitere Details, die weltweit Millionen von Menschen leider sehr genau kennen. Es ist mir lieber, eine zentrale Frage zu stellen:

Wie schreiben wir eine neue OCD-Story?

Wie schreiben wir eine neue Geschichte zum Diagnoseversuch „Zwangsstörung“? Mit dieser Frage sind weitere Fragen verbunden:

  • Wie gewinnen wir die Aufmerksamkeit von Psychologen, damit sie bei ihrer Arbeit für Patienten auf das Idiom „Zwang“ verzichten und besser von „Gedanke mit aktuell viel Bedeutungsaufladung“ sprechen?
  • Wie gewinnen wir Klienten und Patienten für die Idee, dass nicht die Entfernung von Gedanken das Ziel ist, sondern der Umgang mit Gedanken?

Beginnen wir mit einer Einteilung.

Teilen wir die Welt der OCD in die Phase der alten OCD-Stories ein – und neuer, menschenfreundlicher Lebensgeschichten. Lassen wir Lebensgeschichten beginnen, die mit einer kleinen Veränderung beginnen.

Stellen wir uns zwei zentrale, neue Fragen zu OCD:

  • Wie kann aus der Obsessive-compulsive disorder (alt) eine objektiv konstruierte Störung (neu) werden?
  • Welche Entwicklungen können OCD-Patienten beginnen, die über eine objektiv konstruierte Störung nachzudenken?

In Kürze erscheint das erste E-Book zur neuen OCD-Story. Mailen Sie uns, wir senden Ihnen das Erscheinungsdatum: mail@ocdstory.net